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Erscheint im September 2023
Kurz vor Weihnachten taucht in dem Dorf Buchelfingen eine Frau auf, die ihr Gedächtnis verloren hat und nicht mehr weiß, wer sie ist. Man gibt ihr den Namen Maria, und die etwas verschrobenen Brüder Gunnar und Leander Biber nehmen sie bei sich auf. Dabei haben sie derzeit eigentlich ganz andere Probleme: Ihre Mutter ist seit einer Woche spurlos verschwunden, und sie erhalten Drohbriefe, die ihnen ein Verbrechen unterstellen und Vergeltung dafür ankündigen. Bald werden im Dorf erste Vermutungen laut, dass diese rätselhafte Maria etwas damit zu tun haben könnte. Eine Frau ist sich sogar sicher, sie aus ihrer Jugendzeit zu kennen. Doch was tatsächlich hinter Marias Aufenthalt in Buchelfingen steckt, ahnt niemand… |
Der erste Schnee des Jahres fiel genau einen Tag vor dem ersten Advent.
Auf dem Spielplatz im Herzen des Dorfes Buchelfingen jubelten die Kinder über die weiße Pracht, bewarfen einander lachend mit Schneebällen und tanzten fröhlich mit den Flocken um die Wette.
Die kleine Emma drehte sich dabei, die Arme weit ausgebreitet und das Gesicht zum Himmel erhoben, so oft um ihre eigene Achse, bis ihr schwindlig wurde, sie über ihre eigenen Beine stolperte und der Länge nach im Schnee landete. Aber das machte ihr überhaupt nichts aus. Sie war selig, denn sie liebte Schnee, und sie hoffte inständig, dass er bis Weihnachten liegenblieb … oder wenigstens bis zu ihrem siebten Geburtstag am dreizehnten Dezember.
Während sie sich wieder hochrappelte, fiel ihr Blick auf eine Frau, die am Rand des Spielplatzes auf einer Bank saß und mit seltsam ausdruckslosem Gesicht vor sich hinstarrte. Emma musterte sie neugierig. Sie war sich sicher, dass sie diese Frau noch nie zuvor gesehen hatte. Außerdem fand sie, dass die Fremde sich für dieses Wetter bei weitem nicht warm genug angezogen hatte: Sie trug keine Mütze, keine Handschuhe und keinen Schal, nur ein Tuch um den Hals, und ihr marineblauer Trenchcoat wirkte eher wie ein dünner Regenmantel. Sie hielt die Arme vor der Brust gekreuzt und rieb sich mit den Händen die Oberarme. Ganz offensichtlich war ihr kalt.
Kurz entschlossen stapfte Emma über die verschneite Wiese zu ihr, nahm ihren tomatenroten Wollschal ab und hielt ihn der Frau hin.
»Hier – damit du nicht mehr so frierst!«
Die Frau zuckte leicht zusammen, dann hob sie den Kopf und schaute Emma an. Sie wirkte überrascht, machte aber keinerlei Anstalten, nach der unerwarteten Gabe zu greifen. Emma lächelte aufmunternd.
»Du kannst ihn ruhig nehmen. Ich hab noch zwei andere zuhause.«
Der Blick der Frau wanderte zu dem Schal und wurde eindeutig sehnsüchtig. Emma stellte fest, dass die Fremde Augen von einem wunderschönen, klaren Blau hatte, und seufzte innerlich. Solche leuchtend blauen Augen hätte sie auch zu gerne gehabt – nicht so gewöhnliche blaugraue, wie auch ihre Mama sie hatte.
Langsam streckte die Frau eine Hand aus, die Finger strichen zart über die rote Wolle. Dann nahm sie Emma vorsichtig, als traute sie der Sache noch nicht recht, den Schal aus der Hand – und als Emma ihn bereitwillig losließ, knüllte sie ihn mit beiden Händen zusammen, drückte ihr Gesicht mehrere Sekunden lang in das weiche Wollbündel und schlang sich den Schal dann hastig um den Hals. Sie atmete tief durch, sah Emma an, und zum ersten Mal huschte ein scheues Lächeln über ihr Gesicht.
»Danke«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang tief und rau, als hätte sie sie seit Jahren nicht mehr benutzt.
»Steht dir gut!«, versicherte Emma.
Erneut umspielte ein kleines Lächeln die Lippen der Fremden, und plötzlich rückte sie ein wenig beiseite – eine wortlose, aber unmissverständliche Einladung an Emma, und die setzte sich sofort bereitwillig neben die Frau auf die Bank.
»Wie heißt du denn?«, erkundigte sie sich neugierig. »Ich heiße Emma!«
Schlagartig erlosch das Lächeln der Fremden, und ihr Gesicht verdüsterte sich, als hätte Emma mit ihrer Frage auf einen Lichtschalter gedrückt.
»Das … das weiß ich nicht«, sagte sie leise.
Die Geschichte dieses Roman geht zurück auf einen Aufenthalt auf der schwedischen Insel Gotland in dem ungewöhnlich sonnigen und warmen Mai 2018. Damals schrieb ich in dem schönen roten Ferienhaus einer Bekannten Ideen für eine Geschichte von verschrobenen Brüdern fortgeschrittenen Alters mit dem einen oder anderen dunklen Geheimnis nieder und gab dieser Ideensammlung den Arbeitstitel “Bruderkuss”. Später, als ich wieder zuhause war, feilte ich noch ein wenig an dem rudimentären Plot herum, aber da ich zu der Zeit auch mehrere konkrete Buchprojekte auf dem Schreibtisch liegen hatte – den “Mordshass”, den “Kuckuckssohn” und die Kashmir-Saga, die teilweise bereits in der Endphase waren und meine ganze Aufmerksamkeit brauchten –, landeten diese Feriennotizen erst mal in der Schublade, und in den nächsten Jahren dachte ich nur noch gelegentlich an dieses Gotland-Souvenir, weil ich immer wieder andere Buchprojekte in Arbeit hatte.
Nach dem Krimi “Stumm vor Angst” wollte ich mir eine kleine kreative Schreibpause gönnen und vorerst zwar weiter an der Kashmir-Saga arbeiten, aber nicht sofort wieder gleichzeitig einen neuen Krimi schreiben. Wenig später jedoch brach die Corona-Pandemie aus, und ich dachte, okay, dann nütze ich den Lockdown, um doch wieder einen Krimi in Angriff zu nehmen. Plotideen für Surendra-Sinha-Krimis hatte ich schließlich genug. Aber egal, wie viele von ihnen ich wie oft wälzte: Keine verdichtete sich genügend zu einer Geschichte, von der ich hätte sagen können: okay, damit kann man arbeiten, gehen wir’s an! Offenbar wollte Surendra Sinha zu dem Zeitpunkt seine Ruhe haben und keine neuen Abenteuer erleben. Und da man bekanntlich nichts erzwingen kann, habe ich mich dreingefügt und stattdessen die Lockdown-Monate dazu verwendet, um zusammen mit Simone Dorra die Romanmanuskripte für die letzten beiden Kashmir-Saga-Bände in einem Rutsch fertigzuschreiben. (“Dann haben wir dieses Projekt vom Tisch und den Kopf wieder frei für Neues!”)
Aber auch dann fand ich nicht wieder in eine neue Sinha-Geschichte hinein und betrachtete das schließlich als ein Zeichen: Seine Phase war offensichtlich vorbei, und ich brauchte wirklich etwas völlig Neues. In diesem Moment fiel mir der “Bruderkuss” wieder ein. Ich holte meine Notizen von damals ans Tageslicht und stellte überrascht fest, dass da schon sehr viel Gutes dabei war: zwei kauzige, zwielichtige Brüder, eine Frau ohne Gedächtnis und (ich musste echt grinsen) wieder mal ein kleines Mädchen, mit dem alles anfängt…
Ich überarbeitete den bis dahin nur grob angelegten Plot und bekam immer mehr das Gefühl, dass daraus etwas werden konnte. Vieles war noch offen, ich wusste genau genommen lediglich, wie die Geschichte begann und wie sie endete – aber ich beschloss, es zu riskieren und einfach mal drauflos zu schreiben, ohne eine vorab einigermaßen festgelegte Storyline, wie ich es sonst gewohnt war. Ich gab mich ganz in die Hand der Geschichte, überließ es ihr, wie sie sich entwickeln wollte. Was immer dabei herauskommen würde, es würde in jedem Fall eine völlig neue Erfahrung für mich werden.
Ich änderte den Arbeitstitel in “Rattenweihnacht” und entschied, fiktive Orte zu verwenden (auch das war etwas Neues für mich), weswegen diesmal kein Location Hunting notwendig war. Konkret war lediglich die Herkunft von Kicki Geiger, einer Dorfbewohnerin, die auf Åland aufgewachsen war. Auf diesem Archipel in der Ostsee, das zu Finnland gehört, aber überwiegend schwedisch geprägt ist, hatte ich 2019 meinen letzten Auslandsurlaub vor der Pandemie verbracht, und dass ich eine Frau aus Mariehamn in meine Geschichte einbaute, war gewissermaßen eine Hommage an mein geliebtes Skandinavien, nach dem ich mich während der Lockdowns mehr sehnte denn je.
Und nun mache ich es kurz: Bei der Arbeit an dieser Geschichte entwickelte ich ein ganz neues Schreibgefühl, vermutlich auch, weil ich so etwas wie die “Rattenweihnacht” noch nie zuvor geschrieben hatte. “Diese Geschichte hat dich aus deiner Komfortzone geholt”, urteilte meine Freundin Simone Dorra, die ich über die Entwicklung des Manuskripts regelmäßig auf dem Laufenden hielt, und damit hatte sie vollkommen recht. Am Schluss schrieb ich nur noch wie in Trance, wie im Rausch, stundenlang und selbst nachts bis in die frühen Morgenstunden, obwohl ich eigentlich eine Lerche und keine Nachteule bin. Aber hier konnte ich nicht anders, etwas trieb mich, und irgendwann war das Manuskript fertig, und ich auch. Völlig.
Dass die Story nachträglich noch grob am Albtrauf verankert wurde, geschah auf Wunsch des Verlags, der mutig genug war, diese etwas andere Geschichte in sein Programm aufzunehmen. Frohe Rattenweihnacht!